Ich habe immer irgendwie gehofft, dass diese Abstürze aufhören würden.Dass nicht wieder ein Anruf kommt:"Du, Thomas, ich hab' da eine schlechte Nachricht für dich ....". Mit Ulli wollte ich genau an dem Tag, an dem er in der Martinswand tödlich abstürzte, genau die gleiche Route klettern. Die nächsten waren Rolf und seine Frau Senta. Dann Klaus. Dann Harald. Dann ...... Irgendwie hat es einfach nicht aufgehört. Ich dachte mir, dass ich von den Fehlern der anderen lernen könnte. Wie Thomas, Friedmann, der während des libanesischen Bürgerkriegs in Beirut wohnte und arbeitete. Einmal wurde einer seiner Freunde 5 Minuten nach Abschluss eines der vielen "Waffenstillstände" von einer Kugel getroffen. "Klar, so kurz nach einem Waffenstillstand darf man nicht aus dem Haus gehen!" Ein anderes mal wurde ein anderer Freund an der "grünen Linie", welche Beirut teilte, getöt. "Klar, so nahe an der grünen Linie darf man nicht rumlaufen!" Ähnlich dachte ich mir: "Klar, alleine darf man nicht auf Skitour gehen!" - nachdem einer meiner Bekannten unter einer Lawine begraben wurde. Oder "Klar, ohne Seil darf man einfach nicht klettern!", nachdem Klaus auf einem relativ einfachen Teil des Abstiegs, der aber doch zum Klettern war, ausrutschte und zu Tode stürtzte.
Robert

Irgendwie komisch: Robert fehlt mir enorm, obwohl in in den letzten Jahren und Monaten vor seinem Tod nicht mehr so viel Kontakt mit ihm hatte. Das letzte Mal waren wir im Wetterstein zusammen unterwegs. Nach der Tour sassen wir gemeinsam in der Nachmittagssonne: “Schon faszinierend. Jetzt machen wir das seit über 20 Jahren. Und es ist noch immer so irrsinnig toll.”
Das letzte mal, als ich Robert traf, hatte ich schon eine partielle Querschnittslähmung. Ich erzählte ihm bei einem Caffee, dass ich mir schon sau-blöd vorkam, dass ich einen “groben Fehler” gemacht hatte. Ich dachte immer, dass ich ja aufpasse, dass mir keine “groben Fehler” passieren würden. Da erzählte er mir, was ihm so im letzten Jahr passiert war. Das eine mal bog er bei einer Skitour bei schlechter Sicht 10 m zu früh nach rechts ab, und war - flutsch - in einer Lawine. Zufälligerweise wurde niemand verschüttet. Das andere mal merkte er beim Abseilen 2 m vor dem Seilende, aber 100 m über dem Boden, dass er den falschen Zwischenstand im Auge hatte. Und wieder ein anderes mal rutschte er im Karwendel beim Abstieg auf einer Eisschicht aus. Kurz vor dem Abbruch wurde der Schnee aber nochmals weich, und er schaffte es, seinen Sturz dort zu bremsen. Manchmal hat man halt Glück - manchmal aber auch nicht.

An der Ama Dablam fehlte Robert das Gück. Er stieg vom Lager 3 ab, um einem Sherpa beim Hochtragen des Materials zu helfen; rutschte kurz aus; das Polyethylen-Seil, an dem er sich sicherte war verwittert und riss; und er stürzte 100 m hinunter, 30 m davon über einen Felsabbruch. Robert starb kurz danach an seinen Verletzungen.
Es ist mir sogar selber schwer zu erklären, warum Robert mir so sehr fehlt. Das erste mal trafen wir uns in Joshua Tree, 150 km aussserhalb von Los Angeles. Am letzten Abend dort hatten wir zuerst ENORM grosse Steaks gegrillt. Danach beschlossen wir kurz vor Mitternacht, nochmals die Route “Walk on the Wild Side” zu klettern. Ich erinnere mich noch, wie die Umrisse von Robert im Vorstieg langsam im Sternenhimmel verschwanden. Oben, auf dem Felssims zauberte er dann zwei Bier aus dem Rucksack. Mit der Wüste im blauen Mondlicht zu unseren Füssen fragten wir uns, was wir eigentlich von unserem Leben wollen. Eigentlich war ja alles so klar: wir wollten intensiv leben; “alt” werden war kein Thema.
Robert entschied sich für die Berge. Ich versuchte einen Kompromiss zu finden, zwischen den Bergen auf der einen Seite, und einem “richtigen” Leben auf der anderen. Ich glaube keiner von uns beiden ist dorthin gekommen, wo er eigentlich hin wollte. Aber wo lag der Fehler? Ich frage mich heute noch - fast jeden Tag.
Mein Unfall
Es ist schon ironisch, dass ich nach 17 Kletterjahren in den Bergen in einer Kletterhalle verunglücken sollte. Im Arikel “Denn erstens kommt es anders, …” im Magazin Berg&Steigen habe ich die Umstände genauer beschrieben. In Kürze: waehrend meiner Mittagspause am 25. April 2001 ging ich mit Sarah, einer Arbeitskollegin, in eine Kletterhalle. Nachdem ich für sie in der zweiten Route ein Toprope eingehängt hatte, hängte sie mich aus, anstatt mich abzulassen. Ich fiel aus 12 m Höhe auf den Rücken, zertrümmerte meinen obersten Lendenwirbel, und drückte mir dadurch mein Rückenmark ab. Durch Glück kam ich schnell ins Spital und auf den Operationstisch. Jean, meiner Frau, wurde schon gesagt, dass ich im Rollstuhl sitzen werde. Aber 1 mm Rückenmark überstand Gott-Sei-Dank das Ganze ….
Zu meiner grossen Überraschung waren die Schmerzen nicht einmal das grösste Problem. Oh - weh’ getan hat es schon - und wie! Als ich nach der zweiten Operation aufwachte, hatte ich enorme Angst, dass ich durch die Schmerzen in meiner Brust einen Blackout haben würde, und dann nicht mehr Atmen könnte. Aber der Doktor beruhigte mich: mit dem Sauerstoff, der durch Kanüllen in meine Nasen gepumpt wurde (ich hatte die ganzen Kabel noch nicht mal bemerkt!), den agressiven Medikamenten, welche mir durch meine Halsschlagadern verabreicht wurden, und den weniger agressiven, welche in meine Arm-Venen gepumpt wurden, war ich gut versorgt - auch wenn ich zwischendurch mal vor Schmerz ohnmächtig würde. Ich konnte mich daher auf die positiven Aspekte konzentrieren: wenn ich versuchte, meine rechten Zehen zu bewegen - dann bewegten sie sich. Une wenn ich mit den rechten Zehen wackelte - dann bewegten auch diese sich. Bingo - ich war nicht querschnittsgelähmt!!

Die wahren Probleme wurden erst später offensichtlich. Da war zuerst mal meine Entlassung vom UniversitätsSpital Zürich zwei Wochen später, in eine nahegelegene Reha-Klinik . Bis zu diesem Zeitpunkt glaubte ich irgendwie, dass nach dem Spital das Aergste überstanden wäre. Schlecht geraten: ich konnte weder meine Blase noch meinen Darm kontrollieren, wurde beim Aufstehen ohnmächtig, und hatte immer noch massive Schmerzen. Als ich meinem Zimmerkollegen mitteilte, dass ich fuer ca. zwei Monate hierbleiben würde, lachte dieser auf, und meinte: “Das haben sie mir auch gesagt - und das war vor mehr als einem Jahr!”
Der zweite Hammer kam vier Monate spaeter, als ich zum ersten Male wieder nach Hause gehen konnte. Dieses Mal hatte ich mir eingeredet, dass nach dem Aufenthalt in der Reha-Klinik das normale Leben wieder weitergehen könnte. Aber als ich nach Hause kam, hatte das “normale Leben” sich schon lange von dort verabschiedet. Der Platz war zwar noch der Gleiche - aber ich konnte kaum ohne Hilfe in das Bett rein, oder aus dem Bett raus, hatte eine lecke Blase wie ein alter Hund, und hatte immer noch Schmerzen. Die Normalität war weg, und würde sich hier so bald nicht mehr blicken lassen.
Ich bin immer noch dabei, mit meinem Unfall und seinen Folgen zurechtzukommen. In Traum und Wirklichkeit habe ich mal versucht meine Gedanken zusammenzustellen. Aber es ist nicht leicht ..
Kurt
Der Tod von Kurt machte mir den Preis des Kletterns zum ersten mal wirklich bewusst. Mit Kurt war ich im Karwendel unterwegs gewesen, im Wetterstein, in den Dolomiten, in den Kalkkögeln, und im Wilden Kaiser. Am Sellapass wurde unser Zelt von einem Sturm weggeblasen. An Kurts 30. Geburtstag stiegen wir mit Skiern auf den Maulgrübler. Und gemeinsam kämpften wir uns uber eisverkrustete Platten auf die Lüsener Villerspitz

An dem Tag, an dem Kurt mit Hans gerade in der Erdenkäufer Route am Schüsselkar unterwegs war, wollte ich mit Jan die O-Wand des Gonzen, die höchste Wand der O-Schweiz besteigen. Vor lauter Bäumen konnten wir aber die Wand nicht finden, und endeten daher am Waalensee, wo wir in der ersten Sommerhitze eine irrsinnig steile, schöne Tour klettern konnten. Als wir heim fuhren, waren Kurt und Hans ca. 100 km weiter östlich gerade tot. Hans, der die vorletzte Länge führte, ist vermutlich von einem Schneerutsch aus der Wand gezogen worden, und hatte keine Chance, den 25 m Sturz zu überleben. Kurt, der am Stand war, blickte gerade nach oben, als ein Stein seine Halsschlagader aufriss, und dann seinen Brustkorb zertrümmerte. Der Schwefelgeruch, der von splitternden Steinen oft erzeugt wird, verzog sich langsam. Dann wurde es wieder still.

Kurt starb am 4. Juni 2000. Er war viel mit Hans Salcher unterwegs, und Hans’ Sohn hat In memoriam Hans Salcherd ie Faszination, welche die Berge auf Hans ausgeübt haben, eindrucksvoll dokumentiert.
Peter
Bei der Beerdigung dachte ich mir: Warum Peter? Es wäre doch viel besser gewesen, wenn mein Scheiss Unfall ordentlich gewesen wäre, und dafür Peter jetzt noch leben würde.
Sind die Details wichtig? Abram-Kante am Ciavazes, in einer der letzten, leichten, Längen. Ein Griff ist ausgebrochen. Peter kippt nach hinten gekippt, stürzt vielleicht 15m, und bricht sich beim Aufprall das Genick.

Jetzt hat der Tot mich auch in meiner neuen Heimat eingeholt. Wenn ich nach Hinterstoder fahre, komme ich am Parkplatz vorbei, an dem wir uns immer getroffen haben. In Windischgarsten schaue ich hinauf zum Hohen Nock, unserer letzten Skitour. Nachdem für mich 1400 Höhenmeter nun schon an der Grenze sind, ging Peter die letzten 500 Meter einfach zweimal, das zweite mal langsam, mit mir zusammen. Und das Runterfahren, fast schon wie im Himmel: die oberste angefrorene Firnschicht löst sich in der Steilrinne, fliegt gemeinsam mit uns hinunter- fast mehr fliegen als Skifahren - … Jetzt, wenn ich auf den grossen Priel schaue, von dem er mit den Ski runtergefahren ist, oder auf den Schrocken, auf den er mich über den verwächteten Grad hochgelots hat, oder ….
Aber Peter ist tot.
Wie wichtig muss uns jemand sein, damit sein Tod uns aus der Bahn werfen kann? Peter war ein guter Freund, aber nicht mein engster. Und trotzdem hat mir sein Tod den Boden unter den Füssen weggezogen. Ich habe zwei Jahre gebraucht, um mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Vielleicht, weil es bereits mein vierzehnter Bekannter ist, der in den Bergen stirbt. Vielleicht, weil mich der Unfalltod einfach nicht loslässt. Wie oft denke ich mir beim Läuten des Telefons “Bitte nicht wieder … “
Klettern hat einen hohen Preis. So viele Freunde tot. So viele Schmerzen und medizinische Probleme im Alltag. Und trotzdem träume ich noch heute jede Woche vom Klettern. Macht das irgendeinen Sinn?
... und zu viele andere ...
Ulli, Harald, Stefan, Karim, … es ist schwer zu glauben wie teuer uns unsere Suche nach Intensität, nach Leben gekostet hat.
Neben meinen Freunden kamen dann auch noch andere dazu, welche ich nicht kannte. Am Bauernpredigtstuhl (im Wilden Kaiser) stürzte ein Kletterer in der ersten Länge. Wir schafften es zwar, innerhalb von einer guten halben Stunde einen Rettungshubschrauber vor Ort zu haben. Aber in den Abendnachrichten wurde dann mitgeteilt, dass er auf dem Weg ins Spital verstarb. Ein anderer wurde vor den Augen von Flo und mir in Arco weggetragen. Er wollte in den Fischzuchtplatten eine Route solo klettern, und wurde von einem herabfallenden Stein aus dem Gleichgewicht gebracht.
Ist es da noch gerechtfertigt, die zu erwähnen, welche ihre Unfälle überlebt haben? Zum Beispiel die Frau, welche am Schüsselkar in der letzten Seillänge über das Seilende hinaus abseilte, und trotz zertrümmertem Brustkorb absteigen musse, da es zu dunkel fuer einen Hubschraubereinsatz war? Oder der Mann in den Dolomiten, der sich - fälschlicherweise - dachte, seine Zähne waeren stark genug, um sich am Seil kurz damit festzuhalten? Oder der Kletterer im ElDorado Canyon, für den ich die Bergrettung holte: er hatte bei seinem Sturz aus 10 m Höhe den ersten Haken ausgeklinkt, schlug auf einem schrägen Felsband auf … aber kam fast unverletzt mit dem Schrecken davon?