Traum und Wirklichkeit
Ein Versuch, die Wirklichkeit zu verstehen, von Thomas Haslwanter.
Der Traum
Tschechenplatten, Marmolada S-Wand, Pumprisse .....
Beim Durchlesen des Tourenbuchs von Hans bekomme ich feuchte Hände.
Fast möchte ich zum Telefon greifen, um einen meiner Freunde anzurufen
und Pläne zu schmieden. Die Pumprisse zum Beispiel: zuerst etwas,
was so ungeheuer ist, so unmöglich; was aber mit der Zeit immer
näher gekommen ist. Einmal war ich ja schon fast dran. Robert und
ich sind in den Kaiser gefahren. Ich weiss noch genau, wie Robert mir
da von Anni erzählt hat. Die perfekte Frau, die grosse Liebe. Das
Leben so schön, und wir wissen genau, wie wir es angehen müssen.
Beim Durchsteigen der Rebitschrisse – zum Testen unserer Form
– dann die Angst, und das Erkennen, dass wir morgen für die
Pumprisse noch nicht reif sind. Und am nächsten Tag dann siegt
unsere Vernunft, und wir drehen – wegen der Gewitterwarnung und
der schwarzen Wolken – vernünftigerweise um. Später
gratulieren wir uns dann, dass wir so vernünftig waren. Diese gegenseitige
Gratulation brauchen wir auch, weil das Gewitter dann noch nicht gekommen
ist, und wir vor uns was zum Herzeigen bei der Hand haben wollen. Abenteuer,
Sonne, Freundschaft – alles so einfach, so klar.
Die Wirklichkeit
Robert ist tot, Hans ist tot, Kurt ist tot.
Ich sitzte auf der Toilette, und muss mit meinen Fingern nachsehen,
ob mein Darm sich schon entlehrt hat. Leider spüre ich wegen meiner
partiellen Querschnittslähmung viele Dinge nicht mehr. Fehlmeldung:
der Darm war leer. Dafür hat meine Blase zugeschlagen, und während
ich die Hinterseite kontrolliere, schleicht sich ganz unbemerkt auf
der Vorderseite was Flüssiges aus meinem Körper raus. Kleidung
wechseln, Boden aufwischen, Unterhose waschen, damit nicht am Morgen
alles so nach Urin stinkt. Das ist die Wirklichkeit. Leider.
Vernunft
Ich liege im Bett, und versuche, die Verbindung zwischen Traum und
Wirklichkeit herzustellen. Auf der einen Seite die Vernunft: eigentlich
habe ich fast das Gleiche gemacht wie Hans. OK, er hat ein paar Touren
abgehakt, an die ich mich nie rangetraut habe. Wie die Pumprisse. Aber
dafür kann ich ein paar knackige Routen in N-Wales, in Colorado,
und an den australischen See-klippen vorweisen, was er nicht kann. Was
wir aber gemeinsam hatten, war der Drang in die Berge. Auch wenn das
bei Ihm zu einem Paddelabenteuer in Alaska geführt hat, und bei
mir zu langen Wanderungen durch Tasmanien. Aber die Idee war die gleiche:
Berge ... Leben ... intensiv.
Auf der anderen Seite bin ich besser weggekommen. Ich bin teilweise
querschnittsgelähmt, er ist tot. Also habe ich gewonnen.
Oder?
...
...
...
Während meines Aufenthaltes in der Rehabilitationsklinik bekam
ich mal einen Anruf von einem Freund in Amerika, der Forscher und Künstler
in einer Person ist. Ich erzählte Joe, dass ich momentan oft hoffte,
dass meine Wirklichkeit in Wirklichkeit ein Traum ist, und dass ich
vielleicht irgendwann mal doch noch daraus aufwachen werde. Jeden Tag
kamen neue Ausfälle ans Licht. Am einen Tag kam ich drauf, dass
mein Stolpern nicht von meinem grossen Blutverlust und damit einhergehenden
Kreislaufproblemen kommt, sondern von meinem massiven Gefühlsverlust
in Füssen und Beinen. Und die Tatsache, dass ich nach 10 Minuten
Mittagessen mich völlig erschöpft hinlegen muss hängt
damit zusammen, dass es meine untere Rückenmuskulatur nicht mehr
gibt. Keine Innervation, keine Kontraktion. Sorry. Und ....
Joe machte mich drauf aufmerksam, dass es keine „Wirklichkeit“
gibt. Nur verschiedene Ansichten einer Situation. Momentan sehe ich
Dinge in einer zugegebenermassen recht düsteren Perspektive. Aber
nachdem diese Perspektive sich im Verlaufe der Zeit verschieben wird,
weiss ich, dass ich es nicht immer so sehen werde. Aus der nächsten
Perspektive wird das dann schon anderst aussehen, und wahrscheinlich
auch besser. Joe hatte recht.
Berge
Am Abend, bei meinem ersten Abstieg vom Schüsselkar blickte ich
zurück. Dieses Mal hatten die Berge gewonnen: Ich musste mich einmal
an einen Haken festhalten, also war es keine Rotpunktbegehung! Die Berge
wirkten so lebendig, als ob ich zu Ihnen sprechen könnte. Mit der
Zeit wurde mir klar, dass die Berge nicht lebendig sind. Was sie uns
boten, war aber trotzdem enorm wertvoll: sie boten uns Möglichkeiten;
einen Lebensraum, in dem wir unsere Ideen in Taten umsetzen konnten.
Anstrenungen waren dazu da, um uns zu überwunden zu werden. Gefahren
waren dazu da, um unsere Aufmerksamkeit zu schärfen. Und die Berge
waren dazu da, um ... dazusein.
Nach meiner Rückkehr aus Australien kontaktierte ich mal einen
meiner ehemaligen englischen Kletterpartner in Grenoble, und fragte
ihn: „by the way, Martin, which grades are you climbing now?“
Worauf dieser antwortete „I’m not climbing grades any more,
I only climb rocks.“ Irgendwie klingt das Alles so einfach, so
einleuchtend. Und bei manchen funktioniert es auch.
Statistik
Was ich allerdings damals nicht wusste: unabhängig von der Erfahrung,
unabhängig vom Können, funktionierte es nicht bei allen, sondern,
nach einer statistischen Auslese, nur bei manchen. Die, welche Glück
haben, werden als „Vorbilder“ alt. Die anderen werden zu
Geschichten, und versinken langsam in der Vergangenheit. Und je länger
man Klettert, umso grösser wird die Zahl der „Pechvögel“.