Sprengt die Alpen - für eine freie Sicht aufs Mittelmeer:
Sogar wir Kletterer haben solche Forderungen der Jugendbewegung
von 1980 lustig gefunden; dabei hätten uns die Alpen gefehlt. Gemeint
waren aber mit dem Spruch auch eher Mentalitäts-Alpen, Sichtblenden,
die sich erheben wie Bretter vor dem Kopf. Und so zugenagelt wollten
wir nicht leben. Uberhaupt wollten wir nicht viel, sondern alles, und
zwar subito! Und ein AJZ, und LSD statt SYP! Aber auch
gut demonstriert war erst halb geklettert; so rollten wir dann unsere
Transparente ein, wuschen das Tränengas aus den Augen und holten - Use
mit de Gfangene - den Kletterrucksack aus dem Schrank. Ab ging's
ins Wägital an die Türme des Bockmattli, wo wir die herkömmlichen Wege
frei zu gehen versuchten oder knifflige Neutouren kletterten, denen
wir mitunter politisch höchst unkorrekte, aber auch poetische, von Lektüre
oder Musikvorlieben geprägte Namen gaben. Klettern war uns Fortset zung
der Bewegung mit anderen Mitteln.
Wir: Das war der KCÜ, der Kletterclub Üetli berg, unser
selbst gegründeter anarcho - dadaistischer Kletterklub ganz ohne Statuten
und Ämter, all free
- mit Zentrum und internationalem Büro in unserer Kletterer - WG im
Kreis 4. Einzige Bedingung, um in ihn einzutreten: man durfte kein Schnafler
sein, will sagen, man musste in der Lage sein, den damaligen alten Üetlibergturm
aussen rum seilfrei zu erklettern mitsamt dem weit ausladenden Überhang
der Gipfelplattform - ins Geländer oben hängten wir uns dann mit den
Beinen ein und machten johlend die Glocke, zum mehrheitlichen Entsetzen
allfällig anwesender Knickerbockerträger.
Wild, überdreht und zweifelnd
Anders wollten wir jetzt klettern - all free
war der Zaubername des neuen Kletterns, das wir im Yosemite und im ostdeutschen
Elbsandstein gebirge kennen gelernt hatten und das jetzt auch bei uns
Einzug zu halten begann. Die alten steifen Bergschuhe hatten wir schon
in die Ecke geschmissen, und wir bastelten chalk bags. All free
waren wir zwar keineswegs, wollten es aber werden. Weg mit dem falschen
alten Kletterstil, weg mit der ganzen etablierten Kultur, mit der zwinglianischen
Langeweile! Materialistische Lebenshaltung und Materialschlachten in
den Bergen lehnten wir ab. Clean und einfach, by fair means wollten
wir jetzt klettern - und leben. Wir suchten ästhetische Linien, egal,
wohin sie führten - Gipfel und Karrierepeaks könnten uns gestohlen bleiben.
Auf das Wie des Wegs, des Lebens kam es an. Das Establishment entlockte
uns nur höhnisches Gelächter, der SAC war uns ein konservativer Männerbund
mit verlogener Naturseligkeit, der zu Gurkensalat gemacht gehörte wie
der sich darauf reimende Staat. Wir waren wild, überdreht, unsicher
und idealistisch, suchten, oft ver zweifelnd, nach einem möglichen Sinn
unseres Lebens. Klar war nur, dass es nicht der sein durfte, den die
Umgebung vorlebte; vor lauter Protest war uns wenig bewusst, wie polarisiert
auch wir dachten, die Welt war ein einziges Schwarz und Weiss; vom Bunten
und gänzlich Ungeregelten zu träumen, wie wir es taten, war notwendig,
aber auch angekränkelt davon. Wir lebten im Kalten Krieg, und den wollten
wir nicht; dennoch folgte er uns bis in die kalten Nordwände, wo wir
steile Kriege führten gegen uns selbst.
Und Klettern war damals durchaus eine riskante Sache.
Die modernen Sicherheitsstandards des heutigen Sportkletterns existierten
nicht. Statt Plaisir setzte es oft Blessuren ab, Nordwände waren Mordwände,
nach jeder überstandenen Tour
kehrte man dankbar fürs Überleben zurück. Stürzen empfahl sich bei den
meist unzuverlässigen Sicherungsmöglichkeiten nicht wirklich. Tapfer
hängten wir uns in den alten Routen an rostige Vorkriegsständhaken mit
Gartendrahtschlingen statt Ringen, vertrauten auf Holzkeile, die in
Graspolstern steckten, oder sicherten überhaupt nicht - toll wollten
wir es doch haben. Äkschen flüsterten wir wie nach den VYs, den Vollversammlungen
der Bewegung, und hängten uns an knirschende Cliffhanger, Luscht statt Frust skandierten wir wie an der Nacktdemo am Bellevue
und überwanden mit Anschleichen irgendeinen gelbsplittrigen Überhang,
der in die verheissene Zone zu führen versprach - Paradise now! Am Sinn
von allem verzweifelnd gingen wir auch oft zu weit, und statt in Utopia
traf man sich dann an einer Beerdigung wieder; live hard, die young - es ist heute fast unvorstellbar, wie viel
auch der sehr erfahrenen Bergsteiger damals ihr Leben liessen.
Wir suchten nicht das Risiko, doch wir mieden es auch
keineswegs. «Klettern ist die Kunst, den Grat zwischen Wahnwitz und
Feigheit zu begehen», war einer unserer Leitsprüche. Lange Runouts über
zweifelhaften Zwischensicherungen produzierten auch bei uns Stress,
aber das waren die Highs, die wir Adrenalinjunkies brauchten. Unter
Lebensgefahr explodierten wir in eine Vita lität, die wir im Alltag
selten erreichten; wer dem Teufel immer wieder mal in die Gabel schaute,
lebte doch so intensiv, wie die bourgeoisen Zwinglianer
unten in Zürich es sich nicht mal träumen liessen. Wir waren Schwerenöter,
aber im Fels erwuchs uns eine ungekannte Leichtigkeit des Seins; wir
waren Luftibusse und suchten die zentrierende Schwerkraft; wir turnten
über dem Abgrund, weil es keinen Boden gab, der uns trug.
Getragen waren wir jedoch von der Hoffnung, ein anderes Bewusstsein von
uns gewinnen zu können. Wenn wir körperliche Grenzen und gesellschaftliche
Einengungen überwanden, so musste, dies die nicht ganz unpathetische Forderung
an sich selbst, auch eine Befreiung des Geistes möglich sein. In der
«Flueziitig», dem Magazin der uns freundschaftlich
verbundenen
Jura vipern aus dem Umfeld der Basler Häuserbeset
zungsszene, hiess es 1980 reichlich idealistisch und mit beinahe bundesrätlicher
Eleganz, der Geist solle sich von
verkrusteten Normen lösen, aus der Vergangenheit lernen
und nach neuen Werten streben. Schon 1981 tönte es dann aber
etwas resigniert über Freiklettern und Freiheit: "Seht ihr nicht
ein, dass ihr noch so schwer und frei klettern könnt und doch Gefangene
eures eigenen Tuns bleibt? Konsumzwang, Leistungszwang, Geltungszwang
u. a. m. lassen euch nicht mehr viel Freiheit. Die Spaltung des Lebens
in zwei ungleich lange Abschnitte Arbeit und Freizeit führt unweigerlich
zu Dominanz der Verhaltensnormen der Arbeitswelt auch in der kürzeren
Freizeit. Gerade darum ist es so wichtig, dieser Spaltung entgegenzutreten
mit dem Willen, vorhandene Ideale zu verwirklichen."
Unverstanden, am Rande, aber fit
Die meisten Gleichaltrigen verstanden uns nicht. Klettern
war noch keineswegs in und so verbreitet wie heute; wer in die Berge
ging, war erstens am Wochenende nicht an den Feten dabei und hatte darüber
hinaus vor allem mit dem Vorurteil zu kämpfen, etwas Vorgestriges zu
tun. Dabei gingen wir doch, so sahen wir es, ganz anders an die Sache
als die uns bekannten typischen Bergsteiger; wir hatten nicht ihre Einstellung
und schon gar nicht, wie wir wenig bescheiden dachten, das dürftige
alpintechnische Niveau dieser rot gesockten Pfeifenraucher. Wir trainierten
an Tür rahmen und an den Nagelfluhfelsen des Üetlibergs bei jeder Witterung,
fuhren Rad ohne Handschuhe auch bei klirrender Kälte, benutzten Baustellenjobs,
um Arme und Finger zu kräftigen, machten Touren an jedem demofreien
Tag; so waren wir zwar Kulturleichen und wussten: du hast keine Chance, aber wir nutzten sie.
Aussehen taten wir wie diejenigen, vor denen unsere
Eltern uns immer schon gewarnt hatten, wir lebten nicht gesund wie unsere
entfernten Vorfahren von der Wandervogel - Bewegung, wir lebten am und
über dem Limit, aber wir waren fit. Bald bezwangen wir die schwierigsten
der dama ligen Touren, oft in Rekordzeiten. Auf gute Ausrüstung zu achten,
schien uns kleinlich, zudem mangelte es uns immer an Geld, so
machten wir auch grrosse Touren ohne wirklich seriöses Material, die
Matterhorn - oder Eigernordwand zum Beispiel in Malerüberhosen und mit
Holzpickeln; einer von uns stand da überhaupt zum ersten Mal auf Steigeisen,
einheimische Bergführer warnten uns, die wir daherkamen, als ginge es
an ein Open - Air - Festival, vor den schlechten Verhältnissen, aber
das waren für uns eben auch Schnafler und Hinterwäldler. Nachdem uns
am Einstieg der Courtes - Nordwand eine Eislawine fast erschlagen hätte,
machte ich zwei Tage später an einem damals erst zweimal durchstiegenen
Schweizer Bigwall einen rekordverdächtigen Fünfzigmeter Flug, wobei
ein Seil riss und das andere so kaputt war, dass wir uns nicht einmal
mehr an ihm abzuseilen getrauten - was ein zweitägiges Hängebiwak nach
sich zog, bis Retter - in Knicker bockern - uns holen kamen. Mein Partner
wurde an dem Tag zwanzig.
Gelebte Utopien
Martin Scheel, Kernmitglied des KCÜ der ersten Stunde
und WG - Kumpan, trug den Ruhm unseres Klübleins in die weite Welt hinaus.
Mit seinen bahnbrechenden Erstbegehungen und seinem stupenden Können
wurde er zu einem der bekanntesten Kletterer der ganzen achtziger Jahre,
nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika und Australien. Scheel
- Routen gelten auch heute noch als ernsthaft und sind in ihrer Ausgesetztheit
alles andere als Plaisir - Touren, zum Teil sind sie noch gar nicht
wiederholt. Wie andere Spitzenkletterer von damals, etwa Wolfgang Güllich
oder Kurt Albert, war auch Scheel Leistungssportler und Aussteiger zugleich.
Einem, der damals das ganze Jahr über klettern wollte, blieb auch nicht
viel anderes übrig, als sich aus einem geregelten Arbeitsleben zu verabschieden:
Es gab weder eigentliches Sponsoring noch Kletterwett bewerbe mit Preisgeldern
und vor allem auch keine Kletterhallen, so dass man sich also für den
Winter eh in den Süden verziehen musste. Viele Kletterer lebten darum
wie Freaks. Sie betrachteten sich dabei auch gar nicht eigentlich als
Sportler, sondern als Lebenskünstler, die versuchten, oftmals unter
Einsatz des Lebens, eine Utopie zu leben; einen Traum, der einen zwang,
sich bis an die äussersten Grenzen des Möglichen zu begeben - und das
hiess unter den gegebenen Umständen auch an die Grenzen der Gesellschaft.
Das alles ging natürlich trotz allem nicht ohne eine
ganz tüchtige Portion Leistung - aber im frühen Sportklettern waren
die Regeln gewisser massen noch «flüssig»; alles schien sehr spielerisch,
man legte sich die Regeln sozusagen selber zurecht; und so konnte der
Leistungsgedanke vor erst noch ohne grosse Verdrängungsleistung im Hintergrund
bleiben. Manche der Kletterer, die sich den gesellschaftlichen Normansprüchen
so stark verweigerten, erfüllten aber sicher mehr, als vorsichtiger
oder furchtsamer, hatten vielleicht das Studium abgeschlossen oder gar
eine Arbeit gefunden, suchten uns neu zu orientieren; der Rausch des
Neuen, Frischen, Niedagewesenen war spürbar verflogen, der weltanschauliche
Hintergrund der Anfangszeit begann zu verblassen; heutige Sportkletterer
wissen kaum noch was von der Lebensphilosophie und Kultur der Achtziger.
Dazu die «Flueziitig» 1986: «Man fragt sich, wo die poetischen Freaks
geblieben sind, die im Freeclimbing Selbstverwirklichung, ein neues
Freiheitsgefühl von Körper und Geist suchten.»
Ja, wo waren wir geblieben? Entlassen hatten wir uns
aus diesen abschüssigen Zeiten. Weg gegangen waren wir und naturgemäss
immer kleiner geworden, kaum können wir uns jetzt am Horizont noch erkennen.
Und unsere Zauberberge - wie sind sie geschrumpft! Wie flach ist doch
eigentlich sogar die Vertikale gegen das haltlos steile Leben selbst!
So lebt denn wohl, ihr meine irrlichternden Gestalten von Anno dazu
mal, ihr des Lebens treuherzige Sorgenkinder! Eure Geschichte ist aus.
Wir haben sie erzählt um der Geschichte willen, nicht eurethalben, denn
ihr wart simpel. Aber zuletzt war es doch eure Geschichte, und wir verleugnen
nicht die pädagogische Neigung, die wir in ihrem Verlaufe für euch gefasst
und die uns bestimmen könnte, zart mit der Fingerspitze den Augenwinkel
zu tupfen bei dem Gedanken, dass wir euch weder sehen noch hören werden
in Zukunft. The times they are a - changin'. Es hat
sie gegeben, die früheren Zeiten. Das ist so sicher, wie dass sie vorbei
sind.