Das Klettern in den Zeiten der Unruhe

Auf der Suche nach den verlorenen Anfängen eines Sports

Roland Heer (NZZ 235, 10. Okt 2002)

Sprengt die Alpen - für eine freie Sicht aufs Mittelmeer: Sogar wir Kletterer haben solche Forderungen der Jugendbewegung von 1980 lustig gefunden; dabei hätten uns die Alpen gefehlt. Gemeint waren aber mit dem Spruch auch eher Mentalitäts-Alpen, Sichtblenden, die sich erheben wie Bretter vor dem Kopf. Und so zugenagelt wollten wir nicht leben. Uberhaupt wollten wir nicht viel, sondern alles, und zwar subito! Und ein AJZ, und LSD statt SYP! Aber auch gut demonstriert war erst halb geklettert; so rollten wir dann unsere Transparente ein, wuschen das Tränengas aus den Augen und holten - Use mit de Gfangene - den Kletterrucksack aus dem Schrank. Ab ging's ins Wägital an die Türme des Bockmattli, wo wir die herkömmlichen Wege frei zu gehen versuchten oder knifflige Neutouren kletterten, denen wir mitunter politisch höchst unkorrekte, aber auch poetische, von Lektüre oder Musikvorlieben geprägte Namen gaben. Klettern war uns Fortset zung der Bewegung mit anderen Mitteln.

Wir: Das war der KCÜ, der Kletterclub Üetli berg, unser selbst gegründeter anarcho - dadaistischer Kletterklub ganz ohne Statuten und Ämter, all free - mit Zentrum und internationalem Büro in unserer Kletterer - WG im Kreis 4. Einzige Bedingung, um in ihn einzutreten: man durfte kein Schnafler sein, will sagen, man musste in der Lage sein, den damaligen alten Üetlibergturm aussen rum seilfrei zu erklettern mitsamt dem weit ausladenden Überhang der Gipfelplattform - ins Geländer oben hängten wir uns dann mit den Beinen ein und machten johlend die Glocke, zum mehrheitlichen Entsetzen allfällig anwesender Knickerbockerträger.

Wild, überdreht und zweifelnd

Anders wollten wir jetzt klettern - all free war der Zaubername des neuen Kletterns, das wir im Yosemite und im ostdeutschen Elbsandstein gebirge kennen gelernt hatten und das jetzt auch bei uns Einzug zu halten begann. Die alten steifen Bergschuhe hatten wir schon in die Ecke geschmissen, und wir bastelten chalk bags. All free waren wir zwar keineswegs, wollten es aber werden. Weg mit dem falschen alten Kletterstil, weg mit der ganzen etablierten Kultur, mit der zwinglianischen Langeweile! Materialistische Lebenshaltung und Materialschlachten in den Bergen lehnten wir ab. Clean und einfach, by fair means wollten wir jetzt klettern - und leben. Wir suchten ästhetische Linien, egal, wohin sie führten - Gipfel und Karrierepeaks könnten uns gestohlen bleiben. Auf das Wie des Wegs, des Lebens kam es an. Das Establishment entlockte uns nur höhnisches Gelächter, der SAC war uns ein konservativer Männerbund mit verlogener Naturseligkeit, der zu Gurkensalat gemacht gehörte wie der sich darauf reimende Staat. Wir waren wild, überdreht, unsicher und idealistisch, suchten, oft ver zweifelnd, nach einem möglichen Sinn unseres Lebens. Klar war nur, dass es nicht der sein durfte, den die Umgebung vorlebte; vor lauter Protest war uns wenig bewusst, wie polarisiert auch wir dachten, die Welt war ein einziges Schwarz und Weiss; vom Bunten und gänzlich Ungeregelten zu träumen, wie wir es taten, war notwendig, aber auch angekränkelt davon. Wir lebten im Kalten Krieg, und den wollten wir nicht; dennoch folgte er uns bis in die kalten Nordwände, wo wir steile Kriege führten gegen uns selbst.

Und Klettern war damals durchaus eine riskante Sache. Die modernen Sicherheitsstandards des heutigen Sportkletterns existierten nicht. Statt Plaisir setzte es oft Blessuren ab, Nordwände waren Mordwände, nach jeder überstandenen Tour kehrte man dankbar fürs Überleben zurück. Stürzen empfahl sich bei den meist unzuverlässigen Sicherungsmöglichkeiten nicht wirklich. Tapfer hängten wir uns in den alten Routen an rostige Vorkriegsständhaken mit Gartendrahtschlingen statt Ringen, vertrauten auf Holzkeile, die in Graspolstern steckten, oder sicherten überhaupt nicht - toll wollten wir es doch haben. Äkschen flüsterten wir wie nach den VYs, den Vollversammlungen der Bewegung, und hängten uns an knirschende Cliffhanger, Luscht statt Frust skandierten wir wie an der Nacktdemo am Bellevue und überwanden mit Anschleichen irgendeinen gelbsplittrigen Überhang, der in die verheissene Zone zu führen versprach - Paradise now! Am Sinn von allem verzweifelnd gingen wir auch oft zu weit, und statt in Utopia traf man sich dann an einer Beerdigung wieder; live hard, die young - es ist heute fast unvorstellbar, wie viel auch der sehr erfahrenen Bergsteiger damals ihr Leben liessen.

Wir suchten nicht das Risiko, doch wir mieden es auch keineswegs. «Klettern ist die Kunst, den Grat zwischen Wahnwitz und Feigheit zu begehen», war einer unserer Leitsprüche. Lange Runouts über zweifelhaften Zwischensicherungen produzierten auch bei uns Stress, aber das waren die Highs, die wir Adrenalinjunkies brauchten. Unter Lebensgefahr explodierten wir in eine Vita lität, die wir im Alltag selten erreichten; wer dem Teufel immer wieder mal in die Gabel schaute, lebte doch so intensiv, wie die bourgeoisen Zwinglianer unten in Zürich es sich nicht mal träumen liessen. Wir waren Schwerenöter, aber im Fels erwuchs uns eine ungekannte Leichtigkeit des Seins; wir waren Luftibusse und suchten die zentrierende Schwerkraft; wir turnten über dem Abgrund, weil es keinen Boden gab, der uns trug.

Getragen waren wir jedoch von der Hoffnung, ein anderes Bewusstsein von uns gewinnen zu können. Wenn wir körperliche Grenzen und gesellschaftliche Einengungen überwanden, so musste, dies die nicht ganz unpathetische Forderung an sich selbst, auch eine Befreiung des Geistes möglich sein. In der «Flueziitig», dem Magazin der uns freundschaftlich verbundenen Jura vipern aus dem Umfeld der Basler Häuserbeset zungsszene, hiess es 1980 reichlich idealistisch und mit beinahe bundesrätlicher Eleganz, der Geist solle sich von verkrusteten Normen lösen, aus der Vergangenheit lernen und nach neuen Werten streben. Schon 1981 tönte es dann aber etwas resigniert über Freiklettern und Freiheit: "Seht ihr nicht ein, dass ihr noch so schwer und frei klettern könnt und doch Gefangene eures eigenen Tuns bleibt? Konsumzwang, Leistungszwang, Geltungszwang u. a. m. lassen euch nicht mehr viel Freiheit. Die Spaltung des Lebens in zwei ungleich lange Abschnitte Arbeit und Freizeit führt unweigerlich zu Dominanz der Verhaltensnormen der Arbeitswelt auch in der kürzeren Freizeit. Gerade darum ist es so wichtig, dieser Spaltung entgegenzutreten mit dem Willen, vorhandene Ideale zu verwirklichen."

Unverstanden, am Rande, aber fit

Die meisten Gleichaltrigen verstanden uns nicht. Klettern war noch keineswegs in und so verbreitet wie heute; wer in die Berge ging, war erstens am Wochenende nicht an den Feten dabei und hatte darüber hinaus vor allem mit dem Vorurteil zu kämpfen, etwas Vorgestriges zu tun. Dabei gingen wir doch, so sahen wir es, ganz anders an die Sache als die uns bekannten typischen Bergsteiger; wir hatten nicht ihre Einstellung und schon gar nicht, wie wir wenig bescheiden dachten, das dürftige alpintechnische Niveau dieser rot gesockten Pfeifenraucher. Wir trainierten an Tür rahmen und an den Nagelfluhfelsen des Üetlibergs bei jeder Witterung, fuhren Rad ohne Handschuhe auch bei klirrender Kälte, benutzten Baustellenjobs, um Arme und Finger zu kräftigen, machten Touren an jedem demofreien Tag; so waren wir zwar Kulturleichen und wussten: du hast keine Chance, aber wir nutzten sie.

Aussehen taten wir wie diejenigen, vor denen unsere Eltern uns immer schon gewarnt hatten, wir lebten nicht gesund wie unsere entfernten Vorfahren von der Wandervogel - Bewegung, wir lebten am und über dem Limit, aber wir waren fit. Bald bezwangen wir die schwierigsten der dama ligen Touren, oft in Rekordzeiten. Auf gute Ausrüstung zu achten, schien uns kleinlich, zudem mangelte es uns immer an Geld, so machten wir auch grrosse Touren ohne wirklich seriöses Material, die Matterhorn - oder Eigernordwand zum Beispiel in Malerüberhosen und mit Holzpickeln; einer von uns stand da überhaupt zum ersten Mal auf Steigeisen, einheimische Bergführer warnten uns, die wir daherkamen, als ginge es an ein Open - Air - Festival, vor den schlechten Verhältnissen, aber das waren für uns eben auch Schnafler und Hinterwäldler. Nachdem uns am Einstieg der Courtes - Nordwand eine Eislawine fast erschlagen hätte, machte ich zwei Tage später an einem damals erst zweimal durchstiegenen Schweizer Bigwall einen rekordverdächtigen Fünfzigmeter Flug, wobei ein Seil riss und das andere so kaputt war, dass wir uns nicht einmal mehr an ihm abzuseilen getrauten - was ein zweitägiges Hängebiwak nach sich zog, bis Retter - in Knicker bockern - uns holen kamen. Mein Partner wurde an dem Tag zwanzig.

Gelebte Utopien

Martin Scheel, Kernmitglied des KCÜ der ersten Stunde und WG - Kumpan, trug den Ruhm unseres Klübleins in die weite Welt hinaus. Mit seinen bahnbrechenden Erstbegehungen und seinem stupenden Können wurde er zu einem der bekanntesten Kletterer der ganzen achtziger Jahre, nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika und Australien. Scheel - Routen gelten auch heute noch als ernsthaft und sind in ihrer Ausgesetztheit alles andere als Plaisir - Touren, zum Teil sind sie noch gar nicht wiederholt. Wie andere Spitzenkletterer von damals, etwa Wolfgang Güllich oder Kurt Albert, war auch Scheel Leistungssportler und Aussteiger zugleich. Einem, der damals das ganze Jahr über klettern wollte, blieb auch nicht viel anderes übrig, als sich aus einem geregelten Arbeitsleben zu verabschieden: Es gab weder eigentliches Sponsoring noch Kletterwett bewerbe mit Preisgeldern und vor allem auch keine Kletterhallen, so dass man sich also für den Winter eh in den Süden verziehen musste. Viele Kletterer lebten darum wie Freaks. Sie betrachteten sich dabei auch gar nicht eigentlich als Sportler, sondern als Lebenskünstler, die versuchten, oftmals unter Einsatz des Lebens, eine Utopie zu leben; einen Traum, der einen zwang, sich bis an die äussersten Grenzen des Möglichen zu begeben - und das hiess unter den gegebenen Umständen auch an die Grenzen der Gesellschaft.

Das alles ging natürlich trotz allem nicht ohne eine ganz tüchtige Portion Leistung - aber im frühen Sportklettern waren die Regeln gewisser massen noch «flüssig»; alles schien sehr spielerisch, man legte sich die Regeln sozusagen selber zurecht; und so konnte der Leistungsgedanke vor erst noch ohne grosse Verdrängungsleistung im Hintergrund bleiben. Manche der Kletterer, die sich den gesellschaftlichen Normansprüchen so stark verweigerten, erfüllten aber sicher mehr, als vorsichtiger oder furchtsamer, hatten vielleicht das Studium abgeschlossen oder gar eine Arbeit gefunden, suchten uns neu zu orientieren; der Rausch des Neuen, Frischen, Niedagewesenen war spürbar verflogen, der weltanschauliche Hintergrund der Anfangszeit begann zu verblassen; heutige Sportkletterer wissen kaum noch was von der Lebensphilosophie und Kultur der Achtziger. Dazu die «Flueziitig» 1986: «Man fragt sich, wo die poetischen Freaks geblieben sind, die im Freeclimbing Selbstverwirklichung, ein neues Freiheitsgefühl von Körper und Geist suchten.»

Ja, wo waren wir geblieben? Entlassen hatten wir uns aus diesen abschüssigen Zeiten. Weg gegangen waren wir und naturgemäss immer kleiner geworden, kaum können wir uns jetzt am Horizont noch erkennen. Und unsere Zauberberge - wie sind sie geschrumpft! Wie flach ist doch eigentlich sogar die Vertikale gegen das haltlos steile Leben selbst! So lebt denn wohl, ihr meine irrlichternden Gestalten von Anno dazu mal, ihr des Lebens treuherzige Sorgenkinder! Eure Geschichte ist aus. Wir haben sie erzählt um der Geschichte willen, nicht eurethalben, denn ihr wart simpel. Aber zuletzt war es doch eure Geschichte, und wir verleugnen nicht die pädagogische Neigung, die wir in ihrem Verlaufe für euch gefasst und die uns bestimmen könnte, zart mit der Fingerspitze den Augenwinkel zu tupfen bei dem Gedanken, dass wir euch weder sehen noch hören werden in Zukunft. The times they are a - changin'. Es hat sie gegeben, die früheren Zeiten. Das ist so sicher, wie dass sie vorbei sind.

 

Thomas Haslwanter, Last modified 2 May, 2012